Der Flug des Kranichs
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Tanz am See

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Beitrag  Ynari So Okt 06, 2013 4:33 am

Tanz am See

Wie so oft suchte Ynari die Einsamkeit. An das Alleinsein hatte sie sich gewöhnt. Oft begrüßte sie es sogar. Die Kal’dorei war es gewohnt, dass stets Blicke auf ihre ruhten. In der Fremde waren es die Blicke der Menschen gewesen, die ihr gefolgt waren, wo immer sie hingegangen war. Sie war ein Exot gewesen, ein Kanarienvogel in einem Haufen Spatzen. Auch in Darnassus folgten ihr die Blicke der anderen Kal’dorei. Wachsame Blicke. Misstrauische Blicke.

Ynari war es gewohnt, dass Blicke ihr folgten. Schon früh hatte sie gelernt, sorgsam zu wählen, welche Gefühle sich auf ihrem Gesicht spiegelten, welche Gefühle sie der Welt zeigte und welche Gefühle sie tief in ihrem Inneren verborgen hielt.

Von Zeit zu Zeit jedoch genoss sie es, den Blicken zu entkommen, zumindest für eine Weile. Daher führten ihre Schritte sie über die Terrasse der Krieger in Richtung Torhaus. Den Schildwachen nickte sie im Vorübergehen respektvoll zu. Im Gürtel ihres Gewandes steckten zwei Fächer. Als sie das Torhaus passiert hatte, beschleunigten sich ihre Schritte ein wenig. Bald hatte sie ihr Ziel erreicht: ein kleiner See, durch Bäume und Gebüsch halb vor den Blicken verborgen.

Ynari hielt inne. Sie nahm sich einen Augenblick Zeit und ließ den Blick über den See schweifen. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht. Mit einem leisen Seufzen öffnete sie wieder ihre silbernen Augen, ohne bemerkt zu haben, dass sie diese kurz geschlossen hatte. Mit langsamen Schritten ging sie zu jener Stelle, an welcher sie so oft geübt hatte. Heute beschloss sie, zu ihrer eigenen Erbauung, den Tanz des Winters zu tanzen. Imrayon war nicht hier um ein Instrument zu spielen, also würde sie sich die Musik einfach vorstellen müssen.

Die Kal’dorei atmete tief durch.

Ein einzelner klagender Ton erklang. Ynaris Körper wurde steif, das Gesicht ausdruckslos. Langsam ließ sie ihren linken Fuß nach vorn gleiten. Dann verharrte sie wieder still. Ein weiterer klagender Ton erklang. Ynari ließ den rechten Fuß nach vorn gleiten. Ihre Mimik war scheinbar entspannt, brachte Ruhe zum Ausdruck. Vor ihrem inneren Auge beschwor die Kal’dorei ein Bild : Laub, das zu Boden gefallen war, Bäume, deren nackte Zweige sich in einen eisengrauen Himmel streckten. Es wurde kälter..Reif bildete sich auf den Ästen und auf dem Gras. Bis auf den heulenden Wind war es still.

Ynari wurde kalt.

Noch ein klagender Ton erklang. Die Kal’dorei ging abermals einen Schritt vor. Sie WAR der Winter, einsam, ungeliebt, kalt, das Ende aller Dinge. Ein Gefühl stieg in ihre auf, eine Mischung aus Trotz und Trauer. Wenn man sie fürchtete, dann sollten die kleinen Lebewesen einen Grund haben, sie zu fürchten!

Langsam hob sie einen Arm und deutete auf eine Pflanze. Ihr Blick wurde durchdringend, bedrohlich. Noch ein Schritt.
Plötzlich warf Ynari den Kopf in den Nacken und die Arme hoch. Wie von Sinnen wirbelte sie herum, drehte sich mit rudernden Armen schnell um die eigene Achse, taumelte, fing sich wieder. Sie wurde zum Sturm, die Pflanze zum Wald. Der Sturm jaulte, pfiff und tobte. Er wütete durch den Wald, bog Bäume, brach Äste, donnerte gegen den Boden. Er näherte sich einer Siedlung der kleinen Lebewesen. Klein wie Ameisen, rannten sie in ihre Häuser, flohen vor dem grimmigem Winter, sperrten ihn aus.

Ynari wirbelte weiter. Die Musik wurde lauter, schwoll zu einem Tosen an, fast unerträglich, fast schmerzhaft. Sie wurde zum Heulen des Sturms.

Und plötzlich…
…war Ynari nicht mehr nur der Sturm allein. Sie war ein Wanderer, ebenso einsam und allein, wie der Winter. Er ging eine Straße entlang, kämpfte sich müde Schritt um Schritt vorwärts, den Mantel fest um seinen Körper geschlungen. Das Gasthaus, den warmen, sicheren Platz, hatte er noch nicht erreicht und er spürte bereits den Sturm in seinem Nacken. Verzweiflung umklammerte sein Herz, denn er fürchtete sich.

Für den Sturm war der Wanderer nicht mehr als eine Ameise. Er tobte über diesen hinweg, ohne Gnade, ohne Reue. Ynari wirbelte und drehte sich. Sie musste sich konzentrieren um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Musik wurde noch lauter, heulte, war hektisch und schnell, ließ ihr Herz rasen….
….und endete abrupt.

Ynari hielt in der Bewegung inne. Der Sturm war vorbei. Der Winter sah sich um. Er wanderte ruhelos umher, streifte durch Wälder, Täler.

Ynari schritt einen Kreis ab, drehte sich um die eigene Achse, langsam diesmal. Die Musik wurde ruhig, leise. Der Winter fühlte das Ende seiner Zeit nahen. Die Tage wurden wärmer und heller. Langsam, widerwillig, aber sich der Unausweichlichkeit seiner Niederlage bewußt, zog er sich zurück in die Berge um dort zu warten.

Die Kal’dorei zog sich ein paar Schritte zurück. Noch einmal ließ sie ihren starren Blick über den See gleiten, dann nahm sie eine entspannte Körperhaltung an und entspannte gleichermaßen ihre Mimik.

Die Übung war beendet.

Ynari
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